COMPULSORY HETEROSEXUALITY: BIN ICH IN WIRKLICHKEIT HOMOSEXUELL?

Du sagst zwar, du stehst auf Männer, meidest aber jede sexuelle Beziehung zu ihnen? Wenn du für einen Jungen geschwärmt hast, dann war das meistens nur eine fiktive Figur? Vielleicht bist du dann eine lesbische Frau, die unter dem Comphet-Syndrom leidet – so stellen es zumindest Videos auf Tiktok derzeit dar.

In der öffentlichen Debatte ist der Begriff Compulsory Heterosexuality, kurz Comphet, kein unbekannter: Schon seit 1980 gibt es den Begriff. Erfunden wurde er von der US-Feministin Adrienne Rich, die in ihrem Essay "Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence" den Begriff zum ersten Mal behandelt.

Rich vermutete, dass Menschen oft nur deshalb heterosexuell sind, weil es quasi von ihnen erwartet wird - oder sie es sogar von sich selbst erwarten. Ursprünglich bezog sich diese Theorie nur auf lesbische Frauen, es könnte jedoch jede andere, von der Heterosexualität abweichende Sexualität betroffen sein.

Der Hype um die Theorie ist groß. Auf Social Media wird viel diskutiert: Ist an dieser Theorie etwas dran? Hindern uns heterosexuelle Normen daran, unsere wahre sexuelle Natur zu finden? Kurzum: Bin ich in Wirklichkeit gar nicht hetero und raffe es nur noch nicht?

Durch die Umgebung beeinflusst

Natürlich geben die Papa-Mutter-Kinder-Spiele im Kindergarten eine Rollenzuschreibung vor, doch auch die Darstellung einer bunten und fröhlichen LGBTQ+-Community, die als Gegenpol dazu dient, haben eine klare Message.

Nichtsdestotrotz: Die absolute Mehrheit aller Menschen wächst sicherlich – direkt und indirekt durch die Gesellschaft implementiert – mit dem Verständnis auf, dass es grundsätzlich normal sei, wenn ein Mann eine Frau liebt und umgekehrt.

"Begriff eher ungünstig"

Die Münchner Paar- und Sexualtherapeutin Andrea Bräu findet den Begriff eher ungünstig. "Übersetzt soll das wohl heißen: zwanghaft heterosexuell sein zu müssen", so die Expertin. Die Frage, ob man davon tatsächlich beeinflusst sein könnte, sei an sich schon "schwierig, weil wir durch alles und jeden beeinflusst werden".

"Wenn man bedenkt, dass acht Prozent der homosexuellen Männer in heterosexuellen Beziehungen oder Ehen leben, dann kann man erkennen, wie sehr wir von Konventionen, Glaubensstrukturen und der Meinung und Bewertung anderer abhängig sind", so Bräu.

Niemand ist 100 Prozent heterosexuell

Diese Menschen würden ihre eigenen Bedürfnisse allerhöchstens noch "heimlich" ausleben, sagt Bräu. Was aber genau dahinter steckt, wenn jemand lange Zeit seine eigenen sexuellen Neigungen komplett verleugnet – ganz gleich in welche Richtung – sei dennoch zu komplex und individuell, um sie auf tiktoksche Manier herunterzubrechen.

Auch US-Sextherapeut Paul Nelson gibt ihr Recht. Er bittet die Community, mit den ständigen Labels und Sexual-Kategorien aufzuhören. "Niemand ist 100 Prozent heterosexuell", sagt er. Diese Erkenntnis sei aber nichts Neues.

Wichtig sei nur, dass man sich von niemandem (weder von der Gesellschaft noch von Tiktokern) in eine Schublade stecken ließe, in der man sich gar nicht wohlfühle. Das gelte für das Label "Comphet" genauso wie für das Label "Hetero".

(VOL.AT/watson.ch)

2024-04-16T18:16:43Z dg43tfdfdgfd